Der Ignoranz-Vorteil („Less-is-more-Effekt“)
in der menschlichen Entscheidungsfindung

 

Ein Beispiel und eine empirische Untersuchung

Der sogenannte Ignoranz-Vorteil, auch bekannt als Less-is-more-Effekt, beschreibt das kognitive Phänomen, dass Entscheidungen unter bestimmten Bedingungen besser ausfallen können, wenn weniger Informationen berücksichtigt werden. Dieses scheinbar paradoxe Prinzip widerspricht der klassischen Annahme, dass mehr Wissen automatisch zu besseren Entscheidungen führt. Besonders in komplexen und unsicheren Entscheidungssituationen kann eine gezielte Informationsreduktion zu effizienteren und genaueren Urteilen führen.

Zwei Aspekte illustrieren dieses Prinzip: ein praxisnahes Anwendungsbeispiel aus dem Bereich der Städteerkennung und ein psychologisches Experiment von Gigerenzer und Goldstein (1996).

 

Anwendungsbeispiel: Städteraten und das Rekognitionsheuristik-Prinzip

Ein bekanntes Alltagsbeispiel für den Ignoranzvorteil stammt aus dem sogenannten „Städteraten“: Probanden sollen entscheiden, welche von zwei Städten eine höhere Einwohnerzahl hat – zum Beispiel San Diego oder San Antonio. In einer Untersuchung zeigte sich, dass deutsche Studierende, die nur eine der beiden Städte kannten (meist San Diego), mit höherer Trefferquote antworteten als amerikanische Studierende, die beide Städte kannten. Die deutschen Probanden setzten unbewusst die sogenannte Rekognitionsheuristik ein: Sie folgerten, dass die bekanntere Stadt wahrscheinlich auch größer ist – was in diesem Fall korrekt war (Goldstein & Gigerenzer, 2002). Ihre Unkenntnis wirkte hier als kognitiver Vorteil, da sie keine irreführenden Zusatzinformationen zu verarbeiten hatten.

 

Psychologisches Experiment: Take-the-Best-Heuristik

Gigerenzer und Goldstein (1996) führten ein wegweisendes Experiment durch, um die Effizienz einfacher Entscheidungsstrategien zu untersuchen. Die Probanden mussten Paare von Städten hinsichtlich ihrer Bevölkerungsgröße vergleichen. Dabei wurde das Entscheidungsverhalten unter verschiedenen Informationsbedingungen getestet. Die Forscher verglichen die Leistung der „Take-the-best“-Heuristik mit komplexeren, gewichteten linearen Entscheidungsmodellen. Die Heuristik berücksichtigt nur den ersten, validesten Hinweis, der einen Unterschied zwischen den Optionen macht, und ignoriert den Rest.

Die Ergebnisse zeigten, dass die einfache Heuristik nicht nur schneller, sondern in vielen Fällen auch genauer war als die komplexen Modelle – insbesondere in Umgebungen mit hoher Unsicherheit und begrenzter Information. Die Forscher interpretierten dies als Beleg für den Less-is-more-Effekt: Weniger Information führte zu robusteren Entscheidungen, da keine widersprüchlichen oder irrelevanten Hinweise berücksichtigt wurden.

 

Ergebnis

Der Ignoranzvorteil ist kein Plädoyer für generelle Unwissenheit, sondern ein Hinweis auf die Effizienz adaptiver Entscheidungsstrategien, die sich evolutionär bewährt haben. In bestimmten Kontexten kann es funktional sein, Informationen zu ignorieren, um kognitive Überlastung und Fehlurteile zu vermeiden. Dies hat weitreichende Implikationen – von der Gestaltung benutzerfreundlicher Informationssysteme bis zur Entwicklung effizienter KI-Systeme, die gezielt relevante Merkmale erkennen und unwichtige ausblenden.