
Von Wissen zur Erfahrung
Zur Frage algorithmisch generierter Erfahrungswerte in künstlichen Systemen
In der Diskussion um künstliche Intelligenz (KI) stellt sich zunehmend die Frage, inwiefern Maschinen nicht nur Daten analysieren und Regeln ableiten, sondern auch etwas entwickeln können, das funktional einer menschlichen „Erfahrung“ ähnelt. Während Menschen Entscheidungen oft auf Basis gelebter Erfahrung treffen – etwa in Form impliziter Mustererkennung, emotionaler Resonanz oder kontextbezogener Erinnerung -, ist fraglich, ob und wie solche Fähigkeiten in KI-Systemen modellierbar sind.
Algorithmische Annäherung an Erfahrung in KI-Systemen
Lernbasierte Systeme: Erfahrung durch Interaktion
Ein wesentlicher Ansatz zur Modellierung erfahrungsähnlicher Prozesse in der KI ist das Reinforcement Learning (RL). In diesem Paradigma lernt ein Agent durch wiederholte Interaktion mit einer Umwelt, indem er Feedback in Form von Belohnung oder Strafe erhält (Sutton & Barto, 2018). Auf diese Weise entwickelt der Agent Strategien, die zunehmend erfolgreiche Entscheidungen ermöglichen – ein Lernprozess, der funktional dem menschlichen Erfahrungslernen durch „trial-and-error“ ähnelt. Besonders in simulierten Umgebungen (z. B. bei AlphaGo, vgl. Silver et al., 2016) wurde demonstriert, wie sich durch millionenfache Selbstspiel-Situationen verallgemeinerbare Spielstrategien entwickeln lassen – ohne explizite Regelkodierung.
Gedächtnisbasierte Modellierung:
Memory-Augmented Learning
Eine weitere Methode zur Generierung erfahrungsnaher Kompetenzen liegt in der Verwendung von Memory-Augmented Neural Networks (z. B. differentiable neural computers). Diese Systeme speichern frühere Situationen nicht nur als Rohdaten, sondern in strukturierter, vektorbasierter Form, sodass kontextuelles Wissen wiederverwendbar wird (Santoro et al., 2016). Dadurch entsteht eine Art „maschinelles episodisches Gedächtnis“, das vergangene Entscheidungsprozesse in neue Kontexte transferieren kann – vergleichbar mit menschlicher Erfahrung als Erinnerung an situativ relevante Problemstellungen.
Bayesianisches Lernen:
Erfahrungsbasierte Unsicherheitsmodellierung
KI-Modelle, die mit Bayes’schen Verfahren operieren, sind in der Lage, Wahrscheinlichkeiten nicht nur zu schätzen, sondern auch Unsicherheit als Teil des Entscheidungsprozesses zu berücksichtigen. Dabei werden frühere Daten gewichtet und neue Evidenz in Relation zur bisherigen Erfahrung interpretiert. Diese Arten von probabilistischer Verallgemeinerung bildet eine mathematische Annäherung an menschliche erwartungsbasierte Urteilsbildung, wie sie aus der Erfahrung abgeleitet wird (Tenenbaum et al., 2011).
Simulation als Erfahrungsumwelt
Besonders in der Robotik und im autonomen Fahren kommt simulationsbasiertes Lernen zum Einsatz, um maschinelle Agenten in künstlich erzeugten Erfahrungsumwelten zu trainieren. Durch unzählige virtuelle Interaktionen können Handlungsmuster und Entscheidungsregeln gebildet werden, die in realen Umgebungen anwendbar sind. Auch hier wird menschliche Erfahrung funktional simuliert, wenngleich nicht verkörpert oder emotional aufgeladen.
Grenzen algorithmischer Erfahrung
Trotz funktionaler Annäherungen bleibt eine wesentliche Differenz bestehen: Maschinen erleben nicht. Was KI-Systeme verarbeiten, sind abstrakte, symbolische oder statistische Repräsentationen – keine verkörperten Wahrnehmungen, keine Emotionen, kein „Gefühl“ des Richtigen oder Falschen. Ihnen fehlt das, was Damasio (1994) als „somatische Marker“ bezeichnet – affektive Rückmeldeschleifen, die aus gelebter, körperlich eingebetteter Erfahrung entstehen. Auch moralisch-intuitive Entscheidungen – wie sie Haidt (2001) beschreibt – entziehen sich derzeit maschineller Replizierbarkeit, da sie tief in sozialen und emotionalen Kontexten verwurzelt sind.
Selbst ausgeklügelte Gedächtnisarchitekturen und Lernverfahren erzeugen daher nur ein Surrogat von Erfahrung – ein funktionales, aber entkörperlichtes Erfahrungsmodell.
Ergebnis
Die Untersuchung zeigt, dass KI-Systeme auf verschiedenen Wegen in der Lage sind, aus statistischem Wissen erfahrungsähnliche Entscheidungsgrundlagen zu generieren. Ob durch Feedback-gesteuertes Lernen, gedächtnisgestützte Repräsentation oder simulationsbasierte Interaktion – maschinelle Lernverfahren können Handlungskompetenzen aufbauen, die menschlicher Erfahrung in ihrer Funktion nahekommen. Dennoch bleibt diese Form der „Erfahrung“ ein rechnerisches Konstrukt ohne Erleben. Was KI erzeugt, ist ein abstrahiertes Modell vergangener Muster – keine bewusste, affektive oder moralisch verankerte Erfahrung. Eine echte Emulation menschlicher Intuition setzt nicht nur statistische Struktur, sondern auch Verkörperung, Subjektivität und Bewusstsein voraus – Eigenschaften, über die heutige KI nicht verfügt.