Hannah Arendt, Systemtheorie und die Selbstvergiftung der Informationsgesellschaft.

Die SLOP-Gesellschaft ist die selbstreferentielle Vollendung der Wahrheitskrise. In ihr wird Wissen durch Sichtbarkeit, Bedeutung durch Aufmerksamkeit und Wahrheit durch Wahrscheinlichkeit ersetzt.

Einleitung

Die moderne Gesellschaft ist seit dem späten 20. Jahrhundert zunehmend von Information, Kommunikation und Daten geprägt. Begriffe wie „Informationsgesellschaft“ oder „Wissensgesellschaft“ (Daniel Bell, 1973) markieren eine Epoche, in der Wissen und Wahrheit als zentrale Ressourcen gesellschaftlicher Orientierung gelten. Diese Orientierung erodiert jedoch im Zeitalter generativer Künstlicher Intelligenz.

Das Phänomen sogenannter SLOP-Contents – massenhaft erzeugter, algorithmisch optimierter, aber inhaltsleerer oder falscher KI-Content – steht exemplarisch für eine Verschiebung der gesellschaftlichen Ordnung von Wahrheit hin zu Sichtbarkeit, Resonanz und algorithmischer Anschlussfähigkeit.

Der Text untersucht diesen Wandel und zeigt, dass SLOP-Content nicht nur Symptom einer postfaktischen Öffentlichkeit ist, sondern selbst zur Selbstvergiftung des wissens- und logikbasierten Ökosystems führt – indem er auch die Trainingsgrundlagen der KI-Modelle kontaminiert, die ihn hervorbringen..

 

Arendt: Die politische Bedeutung der Wahrheit

Hannah Arendt betonte in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ (1967), dass die politische Welt auf einem Minimum gemeinsamer Tatsachen beruht. Sie unterscheidet zwischen rationaler Wahrheit (etwa mathematischer oder logischer Art) und Tatsachenwahrheit, die sich auf überprüfbare Ereignisse der Welt bezieht. Diese Tatsachenwahrheit sei besonders gefährdet, weil sie von menschlicher Übereinkunft abhängt:

„Faktenwahrheiten sind politisch in höherem Maße gefährdet als Vernunftwahrheiten“ (Arendt, Wahrheit und Politik, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, 1967, S. 334).

Die Gefährdung entsteht dort, wo kollektive Lüge oder Manipulation das Vertrauen in Tatsachen zerstören. Arendt formuliert prägnant:

„Wo alle lügen, da glaubt keiner mehr irgendetwas; und wer nichts mehr glaubt, kann sich nicht mehr orientieren. Die kollektive Unfähigkeit, zwischen Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden, zerstört den Sinn für Wirklichkeit“ (ebd., S. 345).

Damit wird Wahrheit bei Arendt zu einem psychologisch und politisch wirksamen Ordnungsprinzip: Nicht ihre ontologische Existenz ist bedroht, sondern ihre Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit. In einer Gesellschaft, die sich ständig belogen fühlt, verliert das psychologische Konzept der Wahrheit seine Gültigkeit.

Übertragen auf die digitale Gegenwart bedeutet dies: Eine Welt, in der massenhaft KI-generierte Falschinformationen zirkulieren, unterminiert nicht die Wahrheit selbst, sondern die Fähigkeit, sie als solche zu erkennen.

 

Luhmann: Anschlussfähigkeit statt Wahrheit

Niklas Luhmann beschrieb in „Die Realität der Massenmedien“ (1996) die Logik moderner Kommunikation als funktional differenziertes System. In diesem System wird Kommunikation nicht mehr nach Wahrheit, sondern nach Anschlussfähigkeit selektiert:

„Kommunikation schließt an Kommunikation an, nicht weil sie wahr ist, sondern weil sie verstanden wird“ (Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, Bd. 1, S. 190).

Wahrheit verliert also ihre Rolle als Selektionskriterium – entscheidend ist, ob eine Mitteilung weitere Kommunikation erzeugt. Die Medienlogik bevorzugt damit das Anschlussfähige gegenüber dem Wahren.

Dieses Prinzip findet im SLOP-Content seine technisch perfektionierte Form: Inhalte werden von KI-Systemen produziert, um algorithmische Aufmerksamkeit zu maximieren – unabhängig von semantischer Tiefe oder Wahrheitsgehalt.

So entsteht eine kommunikative Ökologie, in der „Relevanz“ nicht mehr epistemisch, sondern algorithmisch definiert ist. Wahrheit wird funktional durch Sichtbarkeit ersetzt.

 

Baudrillard: Hyperrealität und Simulation

Jean Baudrillard hat in „Simulacres et Simulation“ (1981) die Transformation des Realen in das Simulierte beschrieben. In der postmodernen Medienwelt sei die Grenze zwischen Wahrheit und Fiktion aufgehoben:

„Das Simulakrum ist niemals das, was die Wahrheit verbirgt – es ist die Wahrheit, die verbirgt, dass es keine gibt“ (Baudrillard, Simulacres et Simulation, Paris 1981, S. 12).

Diese Diagnose beschreibt präzise, was heute in digitaler Form geschieht: KI-generierte Texte, Bilder und Videos sind Simulakren – sie ahmen Wahrheitszeichen nach, ohne auf eine Realität zu verweisen.

SLOP-Content ist somit ein semiotisches Endprodukt, in dem sich Arendts politische Lüge, Luhmanns Kommunikationslogik und die technische Generativität von KI überlagern. In dieser Hyperrealität wird nicht mehr gelogen, um zu täuschen, sondern simuliert, um zu zirkulieren. Die Differenz zwischen Original und Kopie wird obsolet – und damit auch der Wahrheitsanspruch.

 

Han: Sichtbarkeit ersetzt Wahrheit

Byung-Chul Han führt diese Logik in seiner Diagnose der digitalen Gesellschaft fort. In „Infokratie“ (2021) schreibt er:

„Die Informationsflut zerstört die Wahrheit. Wahrheit braucht Stille, Tiefe, Dauer“ (Han, Infokratie, Berlin 2021, S. 49).

Information zirkuliert in der digitalen Ökonomie nicht, um Erkenntnis zu stiften, sondern um Aufmerksamkeit zu binden. In dieser „Erregungsgesellschaft“ wird Bedeutung durch Geschwindigkeit ersetzt. Han konstatiert:

„Im digitalen Raum zirkulieren Daten ohne Sinn“ (ebd., S. 37).

SLOP-Content steht damit paradigmatisch für den Übergang von der Wissensgesellschaft zur Sichtbarkeitsgesellschaft. Orientierung erfolgt nicht mehr über epistemische Geltung, sondern über algorithmische Sichtbarkeit: Was sichtbar ist, gilt als wirklich.

Damit erfüllt sich Arendts Warnung auf technologischem Wege – Wahrheit wird nicht mehr bestritten, sondern schlicht irrelevant.

 

Bauman: Die flüssige Wahrheit

Zygmunt Bauman beschreibt in „Liquid Modernity“ (2000) eine Welt, in der stabile Orientierungssysteme verdampfen. Wahrheit wird flexibel, kontingent und situationsabhängig:

„In der flüssigen Moderne ist Wahrheit flüssig – sie hält nur so lange, wie sie nützlich ist“ (Bauman, Liquid Modernity, Cambridge 2000, S. 89).

SLOP-Content ist die logische Fortsetzung dieser „flüssigen Moderne“: Inhalte werden produziert, kopiert und gelöscht, sobald sie algorithmisch erschöpft sind. Sie besitzen keine Dauer, keine Verankerung, keinen Wahrheitsanspruch – sondern eine operative Halbwertszeit.

 

Der autokatalytische Wahrheitsverlust: KI trainiert auf SLOP

Ein besonders beunruhigender Aspekt der SLOP-Ökonomie liegt in ihrer Rückwirkung auf KI-Systeme selbst.

Generative Modelle wie GPT oder Stable Diffusion werden auf öffentlich verfügbaren Internetdaten trainiert. Wenn diese zunehmend von synthetischem, unzuverlässigem oder falschem Content durchsetzt sind, entsteht ein Rückkopplungseffekt:

  • KI produziert SLOP
  • SLOP wird in Datensätze eingespeist
  • neue KI-Modelle lernen SLOP
  • Wahrheitsgehalt sinkt weiter.

Dieses Phänomen wurde 2023 empirisch nachgewiesen:

„Training generative models on synthetic data causes model collapse, leading to a degradation of diversity and fidelity“ (Shumailov et al., Do AI models degrade if trained on AI outputs?, 2023).

„Das Trainieren generativer Modelle mit synthetischen Daten führt zum Zusammenbruch des Modells, was zu einer Verschlechterung der Diversität und Wiedergabetreue führt.“

Das bedeutet, dass die Gesellschaft der Simulation ihre eigene epistemische Entropie produziert. Wahrheit verschwindet nicht, weil jemand lügt, sondern weil die Datenbasis selbst verdirbt.

 

Psychologische und gesellschaftliche Folgen

Psychologisch führt die SLOP-Inflation zu einer Erosion von Vertrauen. Menschen erleben eine Form der „Truth Fatigue“: Wenn alles potenziell generiert oder manipuliert sein kann, verliert die Unterscheidung zwischen wahr und falsch an Bedeutung.

Dies führt zu Zynismus („nichts ist wahr“) oder Subjektivismus („meine Wahrheit“). Arendt hatte diese Dynamik bereits antizipiert:

„Wenn alles Lüge sein könnte, gilt nichts mehr als wahr“ (Arendt, Wahrheit und Politik, S. 345).

So ersetzt die Identität die Wahrheit als psychologisches Ordnungsprinzip: Entscheidend wird nicht mehr, was gesagt wird, sondern wer spricht. Wahrheit wird zur Funktion von Gruppenzugehörigkeit und algorithmischer Sichtbarkeit.

 

Die SLOP-Gesellschaft als postfaktische Endstufe

SLOP-Content ist mehr als ein technisches Phänomen – er ist Ausdruck einer kulturellen Mutation.
Die Wissensgesellschaft organisierte sich noch um Wahrheit, Expertise und Verlässlichkeit. Die Informationsgesellschaft um Daten und Effizienz. Die SLOP-Gesellschaft schließlich organisiert sich um Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit und algorithmische Resonanz.

In ihr ist Wahrheit keine Leitkategorie mehr, sondern eine Störgröße im Kommunikationsfluss. Arendts politische Warnung, Luhmanns systemtheoretische Beobachtung und Baudrillards kulturkritische Diagnose treffen sich hier: Die Moderne hat nicht die Lüge verabsolutiert, sondern die Wahrheit funktional überflüssig gemacht.

Der entscheidende Unterschied zur klassischen Lüge liegt darin, dass SLOP-Content keine bewusste Täuschung mehr intendiert – er simuliert Bedeutung ohne Bewusstsein.
Damit entsteht eine neue Form von Macht, die Han treffend „Infokratie“ nennt: eine Herrschaft der algorithmischen Sichtbarkeit, in der das Wahre dem Klickbaren weicht.

Die vielleicht radikalste Konsequenz liegt in der Selbstvergiftung der Informationsordnung:
Je mehr KI-Systeme SLOP produzieren, desto stärker verunreinigen sie das epistemische Fundament, auf dem sie beruhen. Die kollektive Unfähigkeit, zwischen Wahrheit und Simulation zu unterscheiden, zerstört den Sinn für Wirklichkeit – nicht nur im Denken, sondern in den Daten selbst.

 

Literaturverzeichnis (Auswahl)

  • Arendt, Hannah (1967): Wahrheit und Politik, in: Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München: Piper 1994.
  • Bauman, Zygmunt (2000): Liquid Modernity, Cambridge: Polity Press.
  • Baudrillard, Jean (1981): Simulacres et Simulation, Paris: Galilée.
  • Bell, Daniel (1973): The Coming of Post-Industrial Society, New York: Basic Books.
  • Han, Byung-Chul (2021): Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie, Berlin: Matthes & Seitz.
  • Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Luhmann, Niklas (1996): Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag.
  • Shumailov, Ilia et al. (2023): Do AI models degrade if trained on AI outputs?, arXiv:2305.17493.

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